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Die Stille von Chagos

"Das Meer ist mit Inseln gesprenkelt, die von weißem Sand gesäumt sind. Ein Streumuster wie milchige Tröpfchen. Es sieht aus, als wären sie aus dem schlaffen Euter der Großen Halbinsel gefallen mit den Malediven im Schlepptau. Die Chagos-Inseln. Ein Archipel in labilem Gleichgewicht, mitten im Indischen Ozean..."

So beginnt Shenaz Patels Roman, der die Geschichte der Inselgruppe und ihrer Bewohner erzählt. Mit einer Schilderung von Landschaft und Natur, sowie ihrer geographischen Lage. Denn diese wird den Bewohner*innen zum Verhängnis.

Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Inseln französische Kolonie. Kokosplantagen entstanden, von Sklaven bearbeitet. Anfang des 19. Jahrhunderts kam die Kolonie unter britische Herrschaft und wurde an Mauritius angeschlossen. Nach Abschaffung der Sklaverei 1835 wanderten Arbeiter*innen aus Afrika und Asien ein, vor allem aus Mauritius und Indien.

Kokospalmen waren die Haupteinnahmequelle, jeder Teil des Baumes wurde verwendet und bearbeitet. Die Menschen lebten nicht im Überfluss, aber alle hatten ihr Auskommen als Angestellte bei der großen Gesellschaft, die das Land besaß und alles verwaltete und organisierte. Das funktionierte bis in die 1960er Jahre hinein.

Der Roman setzt ein mit dem Kanonendonner anlässlich der Unabhängigkeit von Mauritius von der britischen Krone im Jahr 1968. Dem war ein Deal vorausgegangen: Mauritius erhält die Freiheit, wenn es den Chagos-Archipel abtritt. Dieser fällt unter das "Britische Territorium im Indischen Ozean" und bleibt damit unter britischer Verwaltung.

Charlesia, eine der Figuren, um die sich die Geschichte rankt, steht am Kai und schaut in die Ferne. Seit einem Jahr lebt sie in Port Loius auf Mauritius, in einer heruntergekommenen Hütte, zusammen mit ihrer Familie. Sie träumt von der alten Heimat, von Chagos, wohin sie nicht zurück kehren kann. Sie steht am Kai und träumt von "dort."

Dieses "dort" zieht sich durch den ganzen Roman, er ist ein Synonym für Heimat, die aus dem Rückblick ein Paradies gewesen ist. Charlesia war mit ihrem Mann und den Kindern nach Mauritus gefahren (das ist eine einwöchige Schiffsreise), weil ihr kranker Mann zu Hause nicht gut genug behandelt werden konnte. "Es wird für Sie kein Schiff zurück geben." Diese Worte eines Bürokraten treffen sie wie Peitschenhiebe.

Was ihr bleibt, sind ihre Erinnerungen. Diese zeichnet Patel in den folgenden Kapiteln auf. Der Leser erlebt Charlesia in ihrem Haus, mit Nachbarn und Familie, bei der Arbeit, am Strand, beim Kochen, bei der Vorbereitung der Feierlichkeit "Sega", die am Samstagabend stattfindet. Ganz schlicht und doch sehr eindrücklich lernt man die Lebenswelt der Inselbewohner*innen kennen. Durch die Augen Charlesias gesehen wird deutlich, dass es ein Leben in Frieden war. Dies ändert sich schlagartig.

"Sie mußten fortgehen. Hier. Jetzt. Sofort, Das war ein Befehl. Keine Widerrede. Kein Erbarmen. Einfach so. Sie mußten fortgehen."

Das britische Königreich hat die Insel an die Vereinigten Staaten verpachtet. Beginn des Vertrages: 1965, die Laufzeit: fünfzig Jahre. Auf der Insel Diego Garcia entsteht die amerikanische Militärbasis Camp Justice, von der aus B-52-Bomber im Mittleren Osten operieren. So 1991 im Irak und 2001 in Afghanistan. Und vermutlich in weiteren Staaten. Denn die Pacht wurde 2015 um weitere zwanzig Jahre verlängert.

Viele Menschen auf Chagos mussten innerhalb von einer Stunde ihre Häuser verlassen. Auch die hochschwangere Raymonde, die auf dem Schiff Nordvaer einen Sohn zur Welt bringt. Er wird auf den Seychellen registriert. Désiré. Dieser Junge und seine Mutter sind die beiden anderen, die die Geschichte der Deportierten erzählen.

Ausgehend vom Jahr 1968 mit der Unabhängigkeitsfeier blickt Patel in die Jahre 1963, 1967 und 1973. Zwischen 1967 und ´73 vollzog sich die Deportation von 1500-2000 Personen, die sich bereits vor dem ersten Abtransport angekündigt hatte. Zuvor war alle drei Monate ein Versorgungsschiff gekommen, um all das zu bringen, was nicht auf der Insel angebaut werden konnte. Das Schiff war ausgeblieben, bzw. hatte sich stark verzögert, was zu Engpässen bei der Nahrung führte. So wurde klar gestellt, wer die Macht hatte. "Etwas lag in der Luft", erinnern sich die Menschen später, aber keiner hatte geahnt, was.

Das Leben der ins Exil Getriebenen wird exemplarisch an Désiré aufgezeigt. "Dort hätte er wahrscheinlich Arbeit. Hier sitzt er untätig und ohne eine Rupie in der Tasche herum. Überall, wo er sich vorgestellt hatte, hatten sie ihm die Tür gewiesen, sobald sie erfuhren, wer er war. Woher er kam. Er stammt vom Chagos-Archipel, er ist ein "Ilois". So hatten sie ihn genannt. Verächtlich, mißtrauisch, geringschätzig. Seine Mutter hatte ihn gewarnt. Sage niemals, woher du kommst. Hier sind wir nicht willkommen."

Der schmale, nur 150 Seiten umfassende Roman, besticht durch seine Unaufgeregtheit. Er ist keine Anklageschrift. Auch wenn die Anklage deutlich ausgedrückt wird - in Form von Nennung der historischen Fakten. Er ist kein sentimentaler Blick nach hinten. Auch wenn nach hinten geblickt wird. Denn die Erinnerungen sind alles, was die Menschen noch haben. Er zeigt an drei ausgewählten Schicksalen auf, was der Verlust der Heimat bedeutet und zwar über die direkt betroffene Generation hinaus. Dieses Phänomen gilt für alle, die ihre Heimat verlassen müssen.

"Désiré" wußte nicht mehr, was er war. Mauritisch? Obwohl er immer hier gelebt hatte, besaß er nicht die mauritische Staatsangehörigkeit. Seychellisch? Dieses Land hatte er nie gesehen. Britisch? Dort war er noch weniger willkommen. Chagossianisch? Diese Inseln, wo er das Licht der Welt hätte erblicken sollen, kannte er nicht. Sein Geburtsort war ein Schiff, das verschwunden war."

 

Einband: kartoniertes Buch
EAN: 9783938803868
18,00 €inkl. MwSt.