0

Land der Söhne

Roman, Pocket

Erschienen am 12.05.2020
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783036961002
Sprache: Deutsch
Umfang: 415 S.
Format (T/L/B): 2.8 x 18.5 x 11.6 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Zentrale Erlebnisse aus drei Kindheiten fügen sich zu einer Familiengeschichte, in der man jedem Einzelnen nahekommt. Da ist zum einen in den 40er-Jahren der kleine Luigi, der auf ein strenges Outdoor- Internat in New Mexico geschickt wird und dort lernen soll, wie man ein richtiger Mann wird. Dann sein Sohn Giò, der mit seiner Mutter in den 70er-Jahren in eine Hippie- Kommune zieht und plötzlich ganz auf sich allein gestellt ist. Und da ist die 12-jährige Sofia, die mit zwei Vätern aufwächst und sich mit Papa Giò auf eine lange Zugreise in Richtung Vergangenheit begibt. Ein Familienepos, das eindrücklich von Freiheit, Geschlecht, Kindheitsprägung und Identität erzählt.

Autorenportrait

Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Schweiz. 2015 emigrierte sie nach Santa Fe, New Mexico und lebt seit 2019 in San Francisco. Über ihr Leben in den USA schrieb sie die Bestseller Das Glück sieht immer anders aus (2015) und Hinter diesen blauen Bergen (2017). Bei Kein & Aber erschienen Land der Söhne (2018), Das schöne Leben der Toten (2019), Mehr als ein Leben (2022) und zuletzt Der Traum vom Fliegen (2023).

Leseprobe

LUIGI Draußen zog eine Landschaft vorbei. Sonnenverbrannte Hügel, gelbe Felder, vereinzelte Bäume. Keine Palmen mehr. Und auch das Meer konnte er nicht mehr sehen. Er schaute wieder in sein Buch, seine Augen schweiften über die Seiten, ohne mehr als ein paar Satzfetzen zu erfassen. «den Anblick von Blut nicht gewohntDie Kiefer in atmendem Schweigen nicht mehr gefährlich » Der letzte Mohikaner von James Fenimore Cooper. Es war das erste Buch, das er auf Englisch gelesen hatte. Sein Vater hatte es ihm mitgegeben, für die Reise damals. Obwohl er noch gar kein Englisch konnte.«Das ist doch kein Kinderbuch», hatte seine Mutter gesagt. Sie wollte ihm das Buch wegnehmen, aber er hatte es behalten. Er las es immer wieder, und jedes Mal verstand er etwas mehr. Das Englisch war altmodisch und umständlich, die Beschreibungen verwirrend, immer wieder verlor er den Faden der Handlung. Und doch liebte er dieses Buch, gerade seine unverständlichen Passagen. Es beruhigte ihn, wie ihn die Stimme seines Vaters beruhigt hatte. Er hatte ihm vor dem Schlafengehen immer aus dem Buch vorgelesen, das er gerade selber las, ob es ein Gesetzbuch war oder ein Gedichtband. Ohne Rücksicht darauf, ob Luigi auch nur ein Wort verstand. Gerade das hatte ihn beruhigt und zuverlässig einschlafen lassen: der Klang dieser Stimme, die so viel mehr wusste als er.«Schon wieder die Nase im Buch», seufzte Giovanna. Sie verstand nicht, dass Luigi auch das für seinen Vater machte. Sein Vater hatte immer ein Buch in der Tasche, manchmal zwei. Er umwickelte sie mit einem schmalen Lederbändel und schob sie in seine Jackentasche. Manchmal ließ er sie auch von seinem Finger baumeln. So wie er das mit dem Kuchenpaket machte, das er am Samstag aus der Bäckerei holte. Das Paket schaukelte an seinem Finger hin und her, und bis er zuhause ankam, war die gelbe Creme vom Teigboden gerutscht, und Giovanna schimpfte. Je mehr Zeit verging, desto schwerer fiel es Luigi, diese Erinnerungen festzuhalten. Diese Momente. Manchmal wusste er gar nicht mehr, ob sie echt waren oder ob er sie selber zusammengesetzt hatte. Aus seinen Träumen, seinen Wünschen.Er tat nur so, als würde er lesen, als sei er ganz in sein Buch vertieft. Als könnte er seine Mutter nicht hören.«Schau doch», sagte sie immer wieder und zeigte zum Fenster. «Schau doch, wie schön!» Dabei sah sie gar nicht aus dem Fenster. Ihr Blick war auf Luigi geheftet. Ihr Blick war schwer zu deuten. Luigi sah wieder in sein Buch. Er ertrug diesen Blick nicht, der falsche Hoffnungen weckte. «Lass uns umkehren», schien er zu sagen. «Komm, lass uns zurückfahren. Ich will nicht, dass du so weit weg von mir bist.» Aber der Blick täuschte. Luigi schaute nicht von seinem Buch auf, nicht aus dem Fenster. Er las denselben Satz wieder und wieder.«Guarda, guarda!»Manchmal sprach seine Mutter noch Italienisch mit ihm. Er tat dann immer so, als könne er sie nicht mehr verstehen. Das hatte er seinem Vater versprochen: «Sobald wir auf dem Schiff sind, sprechen wir nur noch Englisch miteinander.» Luigi hatte sich daran gehalten. Sein Vater nicht. Er war ja gar nicht auf dem Schiff gewesen. Im letzten Moment hatte er beschlossen, in der Schweiz zu bleiben. Er konnte seine Klienten nicht im Stich lassen.«Und was ist mit uns?» «Es ist doch nur für ein paar Wochen. Monate, höchstens!»Mehr als vier Jahre war das her. Vier Jahre, in denen sein Vater nicht oft geschrieben hatte und irgendwann gar nicht mehr. Es war Krieg. Briefe gingen verloren. Sie waren zu oft umgezogen, dachte Luigi. Sein Vater wusste nicht, wo sie jetzt wohnten. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass Luigi jetzt auf diese Schule geschickt wurde. Mitten im wilden Westen, wo es Indianer gab und Berglöwen, ungesattelte Pferde und Lagerfeuer. Es waren andere Indianer als in dem Buch. Der letzte Mohikaner lebte im Nordosten Amerikas, nicht weit von New York, wo ihr Schiff angelegt hatte.Es war immer nur von Amerika die Rede gewesen. Nicht von New York oder Los Angeles oder gar dem Wilden Westen. Immer nur Amerika, als sei es ein Ganzes, als zerfiele es nicht in die groben Puzzleteile, mit ließ sich seine Aufregung nicht anmerken, sondern schaute gelangweilt wieder in sein Buch.«Rede Englisch», wollte er seine Mutter anfahren, aber genau das sagte Marvin ja immer: «Rede Englisch. Wir sind hier in Amerika.»Luigi wusste alles über Amerika. Sein Vater hatte ihm erklärt, auf welchem Fundament Amerika ruhte: auf Lügen. Auf Tricks. Verseuchten Wolldecken. Auf Verträgen, an die sich keiner hielt. Sklaverei. Ungerechtigkeit. «Und trotzdem», hatte Giorgio gesagt. «Trotzdem, das ist das Wunder. Trotzdem ist Amerika das Land geworden, in dem jeder eine Chance hat. In dem alles möglich ist.»Warum war er dann nicht hier?Wo war er?«Warum sind wir weggegangen?», fragte Luigi. Giovanna schaute erstaunt auf. Sie strickte etwas. Es sah aus wie eine Mütze, aber eine sehr kleine Mütze. Einer Orange würde sie passen oder einer Puppe vielleicht. Sie legte die Handarbeit in den Schoß und schaute aus dem Fenster, die gelben Felsen schienen sich nicht zu bewegen. Dann schaute sie Luigi an.«Das haben wir doch besprochen», sagte sie. «Marvin hat es dir erklärt. Die Outdoor School in Española hat einen sehr guten Ruf.»«Das meine ich nicht. Warum sind wir weg aus Locarno?» Es ergab keinen Sinn. Es war kurz vor dem Ausbruch des Krieges gewesen. Flüchtlinge aus Deutschland versuchten, in die Schweiz einzureisen. Wer würde in diesen Zeiten die Schweiz verlassen?«Warum willst du das ausgerechnet jetzt wissen?»«Weil ich es ausgerechnet jetzt wissen will!» Er klang wie ein kleines Kind.«Die Politik», sagte Giovanna. «Das verstehst du nicht.»«Sind wir Juden?», fragte Luigi, um ihr zu zeigen, dass er sehr wohl verstand. Er hörte die Nachrichten im Radio. Er hörte die Kinder in der Schule reden. Immer mehr Kinder kamen aus Europa. Ihre Eltern arbeiteten für den Film, sie schrieben Drehbücher, sie komponierten Musik, manche waren Schauspieler. Die hatten es am schwersten, wegen der Sprache. Manchmal wartete Luigis Mutter geradezu gierig auf ihn, wenn er aus der Schule kam. «Erzähl, was war heute? Sind wieder neue Kinder gekommen? Ich habe gehört, dass die Kaminskis jetzt hier sind, ist der Sohn in deiner Klasse? Er müsste in deinem Alter sein.» Manchmal erwähnte sie dann seinen Vater. «Giorgio kannte den ganz gut, vielleicht erinnert er sich an uns.»Wie kam sie darauf, dass er nicht verstand?«Warum sind wir weg und Papa nicht?»«Es war nicht genug Geld da», sagte sie. «Wir konnten uns nur zwei Überfahrten leisten.»«Das glaube ich nicht!»«Ach, du! Nun ja, der Nonno brauchte ihn noch. In der Kanzlei. Verstehst du, es waren schwierige Zeiten, und sie sind nicht einfacher geworden. Immer mehr Leute brauchen einen guten Anwalt. Und Giorgio hat eben ein Gewissen - im Gegensatz zu mir » Sie lachte ein Lachen, das nicht lustig war. Dann wurde sie wieder ernst. «Vor allem wollte er, dass du ein gutes Leben hast. Dass du sicher bist.»«Wenn wir nicht Juden...